Es gibt auch in einem kleinen Land wie der Schweiz Winkel, die so entlegen sind, dass es relativ aufwendig ist, sie zu erreichen. Oftmals finden sich diese an den südlichen Enden des Landes, in den verwinkelten Tälern des Wallis, des Tessins oder Graubündens. Eine dieser Gegenden ist das Avers, ein Seitental des Hinterrheintals, in dem die höchstgelegene ganzjährig bewohnte Gemeinde der Schweiz liegt. Wenn man dann noch in einem Seitental dieses Seitentals unterwegs ist, so kommt man sich schon ein bisschen wie am Ende der Welt vor 🙂 … Und wahrscheinlich hätte ich dieses Tal, das Val Madris, nie entdeckt, wenn mich nicht eines Tages ein Freund gefragt hätte, ob ich mit ihm eine Wanderung an den Lago di Lei unternehmen würde.
Es war schon relativ spät im Oktober, als wir loszogen um diese wenig bekannte Ecke Graubündens zu erkunden. Irgendwann zweigt von der Strasse auf den San Bernardino-Pass eine schmale Seitenstrasse ab, die sich an derselben Stelle wie der Ferrera-Rhein durch ein enges Tal zwängt. Die Ortsnamen deuten darauf in, dass der Reisende nun das deutschsprachige Gebiet verlässt und in das romanisch-italienische wechselt. In Campsut, kurz bevor der Madrischer und der Averser Rhein sich vereinen, das Tal sich wieder etwas weitet und die Sprache der Menschen wieder ins Deutsche wechselt, endet die schon endlos scheinende Anreise, und der Gedanke, dass die Strasse noch weiter führt und weiter hinten im Tal immer noch Menschen wohnen, macht einem fast ein bisschen Angst 🙂 …
Von diesem kleinen Ort aus führt ein steiler Weg über 500 Höhenmeter hinauf zur Furgga – oder in Italienisch Passo del Scengia. Hier hat man die Enge des Tals definitiv hinter sich gelassen, und man geniesst an diesem Punkt einen herrlichen Blick über drei Täler – das Avers, das Val Madris und das Valle di Lei. In letzterem liegt der langgezogene, gleichnamige Stausee, den kennenzulernen der Anlass für unsere Wanderung war.
Der 8 Kilometer lange Stausee liegt bereits in Italien – und trotzdem wir uns auf der ganzen Tour so nahe an der schweizerisch-italienischen Grenze bewegten, hatten wir noch keine Grenzüberschreitung vorgenommen. Der Grund dafür liegt in einer Kuriosität: Aufgrund eines Vertrages aus dem Jahre 1863 gehört das Valle di Lei, das in der Geschichte zuvor mehrmals die Staatszugehörigkeit gewechselt hatte, eigentlich zu Italien. Nach der Vollendung des Baus der Staumauer 1962 wurde jedoch zwischen Italien und der Schweiz ein Landabtausch vorgenommen. Der Kanton Graubünden erhielt das Gebiet, auf dem die Staumauer steht, im Austausch gegen die Alpe Motta. Man kann also bis zur Staumauer hinunter wandern, ohne die Schweiz zu verlassen.
Und noch eine weitere Besonderheit zeichnet den Lago di Lei aus: Es handelt sich beim See respektive dem zu- und abführenden Fluss Reno di Lei um das einzige Gewässer Italiens, das in den Rhein und damit in die Nordsee entwässert. Doch alle diese Spezialitäten sieht man der Landschaft natürlich nicht an. Für mich als Landschaftsfotograf war die Tour an den Lago di Lei mit der langen Anreise aus einem anderen Grund lohnenswert, und ich glaube die Bilder zeigen es. Diese südlichen Täler bieten dem Auge des Naturliebhabers einiges. Der Umstand, dass wir spät im Jahr unterwegs waren und in den Tagen zuvor in den höheren Lagen schon Schnee gefallen war, verlieh der Landschaft noch zusätzlich eine attraktive Facette…
Wunderschöne Bilder einer wunderschönen Landschaft! Ich habe mich im Sommer/Herbst 2020 in den Lago di
Lei verliebt, ähnlich schöne Fotos gemacht und an einem schönen Frühherbstabend in den Sonnenuntergang geschaut! Ich hätte dort bleiben können! Speziell für mich war, daß ich nach Jahrzehnten zum ersten Mal
wieder auf Tour war – und dabei einige Quellen des Rheins entdeckt habe; neben dem italienischen Rhein, der aus dem Lago di Lei fließt, auch den Tomasee am Oberalppaß – und den Ursprung des Inn am Lägh dal Lunghin.
Höhepunkt aber war die Quelle des Po im italienischen Piemont – nahe der Grenze zu Frankreich.
Alles schreit nach Wiederholung! Auch der Abstecher ins Avers bis hinauf nach Juf, wo ich im Folgejahr im März bei Minus 13 Grad und überwältigendem Schneeweiß allüberall gewandert bin!
Leider kann man den Lago di Lei mit dem Auto im Winter nicht erreichen – vielleicht probier‘ ich’s zu Fuß im Schnee.
Vielen Dank, Wilhelm, für deinen Kommentar und deine Ergänzungen. Ja, die südlichen Alpen haben in der Tat viel Schönes zu bieten!
LG Andreas